Auszeit auf 2650m Höhe

16.10.2025 on tour Depression 13 Min.

3,5 Stunden Zugfahrt und ich sitze inmitten der Berge der Surselva, die mir durch unsere letzten Ferien so ans Herz gewachsen und ein Kraftort für mich geworden ist. Hier kann ich abschalten, auftanken, bekomme den Kopf frei und leer.

Los ging es ziemlich früh. Kurz vor 6Uhr klingelt der Wecker. Puh, gar nicht meine Zeit. Aber das Tagesziel verhilft zu einem beschwingten Aufstehen. Kaffee für mich, Futter für den Kater, Rucksack fertig gepackt und los zum Bahnhof. Unterwegs niemand zu sehen, dafür viele Pendler mit dem Auto unterwegs zur Arbeit. Um 6:50 Uhr kommt die S11 pünktlich an. Rappelvoll, aber Sitzplatz gefunden. Am HB Zürich umsteigen in den IC3 zum nächsten Zwischenziel Chur. Dorthin wollen noch etliche andere Reisende. In dem Waggon, wo ich endlich einen freien Sitzplatz finde, hat sich auch eine rüstige Wandergruppe einquartiert. Es ist ziemlich laut, ich versuche mich auf's Stricken zu konzentrieren. Blöd nur, ich habe meine Kopfhörer vergessen. So bekomme ich allerhand Seniorenklatsch mit (wer wann gestorben ist, wer ins Pflegeheim musste, wer im Spital ist und wer für seine 2-Zimmerwohnung das Ersparte anzapfen muss, weil die Pension so niedrig ist) Ab Landquart wird es endlich ruhiger im Zug. Die geschwätzige Wandergruppe ist ausgestiegen. Ihr Ziel ist Davos. Für mich geht es weiter bis Endbahnhof Chur. Znüni-Zeit. Also steuere ich das Café Maron an, Kaffee und Gipfeli. Anschliessend kurzer Bummel rund um den Bahnhof mit Zwischenstopp im Orell Füssli. Hier gibt es natürlich viel mehr Literatur aus Graubünden zu kaufen als bei uns Züzis (Bünderisch für Zürcher/innen). Ich kann wie immer dem Ruf des Buches nicht widerstehen und kaufe mir Schattenkind von meinem Bündner Lieblingsautor Philipp Gurt.

Ankunft in Chur - ganz hinten die Twintowers aka Bündner Zwillinge
tasskaff in Chur
Nächste Fahrt
Neues Buch, gleich anlesen

Danach geht es zum Gleis 12, wo der RE7 nach Disentis bereits steht. Aber auch dieser Zug füllt sich mehr und mehr. Und es wird ziemlich eng und warm. Während draussen die Ruinaulta, die Rheinschlucht, vorbeizieht, widme ich mich wieder dem Stricken und versuche die beiden Damen neben mir zu verstehen. Sie unterhalten sich auf Sursilvan, einem der vier rätoromanischen Idiome. Vielleicht klappt es ja doch noch mit einer Sprachkenntniserweiterung.

Ruinaulta, der Grand Canyon der Schweiz

Der Zug leert sich auf der fast 1,5-stündigen Fahrt und ich bin fast die Einzige, die am Zielort Disentis aussteigt. Auf dem Nachbarperron steht schon der Zug nach Andermatt, aber ich werde einen späteren nehmen. Denn zunächst will der Hunger gestillt werden. Blöd nur, dass das Lieblingsrestaurant gerade am Donnerstag geschlossen ist, und die Pizzeria am Eck ist auch zu. Aber die Bäckerei Goldmann hat geöffnet, in der wir immer die feinen Bündner Nusstorten kauften. Ich bestelle mir einen heissen Tee und ein Vermicelle. Der Blick wandert zwischendurch hinüber nach Mompe hinauf, wo sich unser Ferienhaus befindet. Leider hat es in diesen Herbstferien nicht mit einem Aufenthalt dort oben geklappt.

beim Goldmann
Blick nach Mompe

Wenig später schlendere ich zurück zum Bahnhof. Die Sonne kommt allmählich hervor und schiebt die graue Wolkenwand auf Seite. Dank Webcam weiss ich um das Wetter am Oberalppass. Also geschwind in den Zug in Richtung Andermatt eingestiegen. Das rote Bähnli schiebt sich quietschend den Berg hinauf und die Sicht wird immer spektakulärer. Ich bin irgendwie so ergriffen, dass mir fast ein Freudentränchen über die Wange rugelt. Nach circa 40 Minuten Fahrzeit erreiche ich den Oberalppass. Wow, what a view!

Vor lauter Berge glotzen komme ich eigentlich gar nicht zum Lesen
Sonne kommt durch
Bahnreisende
Anfahrt auf Sedrun, im Hintergrund bereits der Oberalppass
Sedrun/Dieni
quietschend gehts den Pass hinauf
Oberalpsee
1553m höher als daheim
schon wieder oder immer noch Schnee?
Wanderung zum Pass-Kreuz
ja wirklich Schnee!
Der Leuchtturm Rheinquelle, dem höchstgelegenen Leuchtturm der Welt auf 2046m ü. M. - ein Nachbau eines niederländischen Leuchtturmes, dessen Original sich im Maritiem Musuem in Rotterdam befindet

Die Bergbahn zum Schneehuenerstock lockt mit einem Special-Price: CHF 18 für die Fahrt hinauf und retour inklusive Kaffee und Kuchen im Restaurant. Das ist für Schweizer Verhältnisse echt ein Schnäppchen! Aber ich überlege noch, ob ich den Ritt mit der Seilbahn wage, weil ich noch immer etwas höhenängstlich bin... Also laufe ich zunächst ein Stück entlang des Oberalpsees und dann zum Gipfelkreuz auf 2071m Höhe.

Nagut, wenn ich schon mal hier bin, dann ist auch etwas Mut gefragt. Ich kaufe mir ein Ticket für den Schneehuenerstock-Express. Aber kaum sitze ich in einer der Gondeln, stoppt sie nach kurzer Fahrt und hinter mir ertönt ein Piepsen. Semioptimal, denn meine Knie sind schon pudding like, und zum Aussteigen ist es zu spät. Plötzlich ein Ruck und die Gondel fährt los. Lago mio, was habe ich mir dabei gedacht! Nicht nach unten schauen! Einfach nach vorn. Aber ich fahre auf eine Felswand zu. Plötzlich und ganz abrupt bleibt die Gondel wieder stehen und aus physikalischen Gründen wackelt sie dann auch noch ein wenig hin und her. Uah! Dann geht es weiter, aber die Gondel wird noch weitere zweimal plötzlich stehen und ein wenig hin und her schaukeln. Mit zunehmender Höhe wird auch der Wind s'bitzeli mehr.

Der wilde Ritt beginnt
Der Schatten bin ich bzw. die Gondel, in der ich gerade versuche die Nerven zu behalten
Blick auf die "Talstation"
Oberalppass mit See & Bähnli
nerfösss!
höher, höher, höher
aber dieser Ausblick!
Steine nur Steine unter mir

Aber kaum habe ich wieder Boden unter meinen Füssen oder besser gesagt Schnee, bekommen meine Knie wieder einen stabileren Halt und meine Nerven hören auf zu flattern. Über Restschnee und Steine, Steine, Steine laufe ich etwas vor zu einer Art Plattform. Die Aussicht! Wahnsinn! Und diese Stille! Ich kann mich kaum satt sehen, sauge alles auf und ein, merke wie sich in mir Anspannung löst. Berge sind für mich einfach ein super Antidepressiva. Ich gehe noch ein Stück und kehre anschliessend im Restaurant ein. Schliesslich habe ich noch einen Gutschein für Kaffee und Kuchen - ein Stück Rueblitorte wird es sein.

Bodenhaftung auf 2650m
Schneehuenerstock auch Unghürstöckli genannt gehört eigentlich zu den Glarner Alpen also zum Glarus. Egal, 2773m ist mächtig gewaltig hoch
Blick nach Andermatt - Kanton Uri
tasskaff with what a view

Die Wetter-App zeigt drei Grad an, aber dank Sonne und Zwiebellook ist mir warm. Und auch ums Herz wird mir ganz warm. Das Glück zu haben, in solch einem schönen Land leben zu dürfen, mit dieser Aussicht beinahe vor der Haustür (naja beinahe...) das macht mich unheimlich dankbar und demütig. Diese Anblicke zu geniessen....für mich allein, mit mir allein. Natur ist schon grandios.

Warten auf die Bahn nach Disentis
knitters on tour

Leider heisst es bald Abschied und die Gondel hinab zum Pass zu nehmen. Diesmal zum Glück ohne ruppige Zwischenwackelstopps. Unten fährt auch schon bald der Zug zurück nach Disentis. Ich hatte erst den Plan nach Andermatt zu fahren und via Göschenen - Arth Goldau - Zürich zurück, aber es stand noch als Idee an, die Hängebrücke in Disentis zu besuchen. Aber die Zeit schritt voran und Eindrücke waren genügend gesammelt. Im Zug fragten mich drei Mädchen einer Wandergruppe aus, nachdem sie mir beim Stricken zugeschaut hatten. Sie waren im Alter meiner Tochter und "freuen" sich ebenso auf Schule kommende Woche wie mein Mini-Me. So hatte ich echt nette Unterhaltung zurück ins Klosterdorf. Dort wartete schon der Anschlusszug nach Chur. Je näher ich mich dem Bündner Hauptort näherte, desto mehr nahm auch die Wolkendichte zu. Sonne ade, hello again Nebel.

kurz vor Chur - bei Domat/Ems vereinigen sich Vorder- und Hinterrhein

In Chur Umstieg auf einen vollen IC nach Zürich, um am dortigen Bahnhof wieder mal völlig lost das richtige Gleis nach Winterthur zu finden. Gegen 20 Uhr war ich dann endlich wieder im heimischen Tösstal.

der letzte Zug für heute, wie viele waren es eigenlich?

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Kommentare

Rappel schrieb am 17.10.2025 um 10:47 Uhr

Hach ja. Ein schöner Ausflug und tolle Bilder. So muss das und ich hoffe, du kannst davon ein Weilchen zehren.

Karl schrieb am 17.10.2025 um 07:22 Uhr

Fantastische Reise, aber Dein Reisebericht absolut grossartig!
So viel Energie, Fähigkeit zum Schreiben und Reisen.
Gratuliere von Herzen.

Karo schrieb am 17.10.2025 um 13:33 Uhr

Ohhh, so schöne Fotos!! Wow, und das als Tagestour! Bin sehr beeindruckt, in mehreren Hinsichten.

kaesedurst schrieb am 17.10.2025 um 21:04 Uhr

Danke euch allen für die netten Kommentare!

derbaum schrieb am 20.10.2025 um 16:08 Uhr

danke für diese grandiose reise - ich kenne andermatt und den pass nur aus dem glacier-express (zu einer zeit da bist du noch in die schule...).

Lorenzo schrieb am 01.11.2025 um 21:04 Uhr

Toller Bericht! 👍️

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